
Moderator Marco Eisenack, Stadtbaurätin Prof. Elisabeth Merk, Vorsitzenden des Bezirksausschusses Wolfgang Püschel und WÖHR + BAUER-Geschäftsführer Wolfgang Roeck
Wie gelingt eigentlich Stadtreparatur?
Die Graggenau verändert sich. Das war schon immer so. Über die Jahrhunderte wurde das Viertel zu einem vielfältigen Quartier. Warum schlummerte es so lange im Verborgenen? Und warum ändert sich jetzt so viel auf einmal?
Moderator Marco Eisenack hat Stadtbaurätin Prof. Dr. (Universität Florenz) Elisabeth Merk, den langjährigen Vorsitzenden des Bezirksausschusses, Wolfgang Püschel, und Wolfgang Roeck von WÖHR + BAUER im Blauen Haus der Kammerspiele getroffen, um für die „Graggenau Stories“ über den Wandel zu sprechen. Landschaftsarchitektin Prof. Regine Keller – Planerin vieler Verbesserungen vor Ort – konnte aus Termingründen leider nicht dabei sein. Wir haben vorab mit ihr gesprochen und ihre Antworten in das Gespräch eingebracht.
Marco Eisenack: Frau Professor Keller, Sie haben für das Projekt tief in den Archiven gegraben. Woher kommt der Name Graggenau eigentlich?
Prof. Regine Keller:
Die Graggenau ist eine alte Flurbezeichnung und bedeutet Krähenwiese. Klingt lustig. Es gab aber noch zahlreiche andere Namen für das Viertel, wie „Wilbrechtsviertel“ und „des Scharfzahns Viertel“.
Wolfgang Püschel:
Der Name hängt natürlich auch zusammen mit den Leuten, die damals hier gelebt haben: zum Beispiel Jäger, Schlosser, Gerber und auch Leute, die Wild verarbeitet haben. Weil das ein Viertel der ganz einfachen Leute war und auch der Handwerker, die man aufgrund ihres gering geachteten Berufes nicht innerhalb der Stadtmauer haben wollte.
Wie würden Sie die Graggenau charakterisieren?
Prof. Regine Keller:
Die Graggenau verkörpert sowohl das mittelalterliche München als auch die Stadt der Renaissance, des Barock, des Klassizismus und schließlich des Wiederaufbaus. Hier befinden sich viele Zeugnisse aus diesen Zeiten: denkmalgeschützte, wunderschöne Gebäude vom Wohnhaus bis zur Schule, von der Hofbräuhaus-Kunstmühle bis zur Oper. So sind hier historisch alle Facetten der Münchner Nachbarschaften vertreten. Repräsentation, Kultur und Arbeit liegen direkt nebeneinander. Eine Mischung, wie man sie sich in einer Stadt nur wünschen kann.
Wäre die Graggenau eine Person, wie wäre sie?
Prof. Regine Keller:
Ich denke, sie wäre ehrwürdig, wandlungsfähig, geschäftig, heiter und künstlerisch.
Wandlungsfähig ist ein gutes Stichwort – vielleicht kann uns Frau Professor Merk als Stadtbaurätin erklären, warum sich dieses Viertel gerade so stark verändert?
Prof. Elisabeth Merk:
Weil wir eine riesengroße oberirdische Parkgarage unter den Thomas-Wimmer-Ring legen konnten und damit plötzlich Flächen zur Verfügung stehen. Lange Zeit war es ein Viertel in der zweiten Reihe – zwischen den zwei Hauptachsen Tal und Maximilianstraße. Und ich denke, unser Augenmerk muss darauf liegen, dass wir mit Projekten wie diesem mehr Aufenthaltsqualität schaffen.
Wolfgang Püschel:
Es war eine hervorragende Entscheidung von Stadt und Politik, den Abbau der alten Hochgarage zu beschließen. Gleichzeitig damit verbunden war ja auch, dass die Straßenführung neu gedacht werden konnte. Ich habe in meiner langen Zeit als Vorsitzender des Bezirksausschusses (BA) ja bereits zuvor Erfahrungen mit einem ähnlichen Projekt gemacht. Auch am St.-Jakobs-Platz hat WÖHR + BAUER eine Hochgarage durch ein Stadthaus ersetzt, verbunden mit einer gemeinsam mit dem BA entwickelten Gesamtplanung für den öffentlichen Raum, der ja auch noch heute unbestritten als eine gelungene Platzsituation bezeichnet wird.
Die Erfahrungen am Angerhof haben Sie, Wolfgang Roeck, ermutigt, sich 2009 an der europaweiten Ausschreibung für das Projekt „Tom & Hilde“ zu beteiligen. Wie sind Sie dieses Mammutprojekt angegangen?
Wolfgang Roeck:
Es geht zunächst darum, den Ort zu erfassen, sein Potenzial und die aktuellen Mängel. Durch die Parkgarage war das Viertel ein bisschen ein Unort, der keine Identität hatte. Als die Ausschreibung für das Projekt kam, haben wir darum als Erstes beim BA vorgesprochen und gefragt: Welche Qualitäten gibt es, welche werden vermisst und auf was sollten wir achten? Und der BA war sich über alle Fraktionen hinweg einig, was hier fehlt.
Was wurde vermisst?
Wolfgang Roeck:
Aufenthaltsqualität, Barrierefreiheit, Ruhe, Attraktivität für Fußgänger. Das hat uns dazu bewogen, dass wir erstmal städtebaulich an das Thema rangegangen sind. Uns war es wichtig, die alten historischen Bezüge wiederherzustellen. Eine Passage durch unser Grundstück ermöglicht den Blickbezug von der Maximilianstraße über die Falckenbergstraße in Richtung Tal. Die zwei Baukörper sind ein Schlüssel dafür, dass dieses Viertel eine Qualität erhalten kann, mit Anschluss zum südlichen Platz vor der Herrnschule, wo der Spielplatz ist und die große Hainbuche steht.
Prof. Elisabeth Merk:
Beim städtebaulichen Wettbewerb stellte sich schon die Frage: Wie geht man jetzt mit so einem Stück Stadtbaustein um? Also baut man ihn komplett als Block, so wie wir es links und rechts sehen, mit Innenhof, aber in sich geschlossen und ohne Durchlässigkeit? Oder macht man echte Stadtreparatur, indem man die Kleinteiligkeit wiederherstellt, die München auch auszeichnet? Der Entwurf des Büros Hild und K war ein eindeutiges Bekenntnis zu dieser Kleinteiligkeit, zu der Öffnung der einzelnen Gebäude zum öffentlichen Raum. Und auch ein Bekenntnis, dass man im Erdgeschoss Dinge anbieten will, die für alle interessant sind – gerade gegenüber dem hochpreisigen Hotel.
Wie werden die beiden neuen Häuser genutzt?
Wolfgang Roeck:
Es entstehen zwei klassische Stadthäuser in bester Tradition der europäischen Stadt: oben Wohnungen, in der Mitte Gewerbe und unten lebendige Bereiche mit kleinen Geschäften, guter Gastronomie und verkehrsberuhigten Freiflächen mit viel Flair. Dazu haben wir gemeinsam mit dem BA und dem Planungsreferat früh über die Potenziale des Umfelds nachgedacht. Es ist eine große Chance für die Menschen, dass der Stadtrat von allen Fraktionen im BA einstimmig beauftragt wurde, die Aufenthaltsqualität auf Grundlage der Planungen von Frau Professor Keller zu verbessern.
Auf dem Weg zum grüneren Quartier mit hoher Aufenthaltsqualität, wo liegen da die größten Herausforderungen?
Prof. Regine Keller:
Es geht darum, Orte zum Rasten zu finden, zum Beispiel auf einer Bank unter einem schattigen Baum. Mehr Platz für ein paar neue Bäume verspricht neben wohltuendem Schatten auch Raum für Versickerung. So kann man das wertvolle Nass sinnvoll dorthin leiten, wo neue Begrünungen das Umfeld lebenswerter machen. Der Spielplatz braucht ein neues und attraktiveres Angebot für die Kinder unterschiedlichen Alters, und das unbedingt in Abstimmung mit ihnen. Flächen müssen, wo immer es möglich ist, entsiegelt werden.
Verlassen wir die verkehrsberuhigten Straßen und betreten die Läden. Was für Geschäfte wünschen Sie sich?
Prof. Elisabeth Merk:
Ich wünsche mir Läden, die auch für alle erschwinglich sind. Wenn man jetzt zur Maximilianstraße geht, weiß man, da gibt es viele Läden, da schaut man sich nur die Schaufenster an. Glücklicherweise gibt es die Kammerspiele mit einem ganz normalen Café, wo jeder hingehen kann. Und das wünsche ich mir eben hier auch, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner dieser Stadt sich da auch einen Kaffee leisten oder einfach diesen Ort genießen können.
Wolfgang Roeck:
Das Entlastende ist ja, dass wir hier nicht in der ersten Reihe sind. Wir haben den Anspruch, dass wir eine gute Qualität und ein angenehmes Flair bekommen. Darum wollen wir zum Beispiel hochwertiges Handwerk anbieten. Die Hofbräuhaus-Kunstmühle zeigt, dass das funktioniert, da geht jeder gerne hin – selbst die Gäste vom Mandarin Oriental holen sich dort das Laugengebäck. Das ist so ein identitätsstiftender Ort. Darum wollen wir, dass gute Münchner Handwerkskunst Fläche bekommt.
Wenn man Ihnen zuhört, klingt das ja nach einem recht perfekten Matching zwischen den Ansprüchen einer Stadtbaurätin und eines Bauherren. Was kann man aus dem Projekt lernen?
Prof. Elisabeth Merk:
Ja, ich glaube, man braucht einfach einen verantwortungsvollen Bauherren, der das Projekt auch wirklich mag. Und das kann man so nicht ausschreiben. Also die Leidenschaft für das Projekt, die Aufgabe und den Ort.
Wie wichtig ist der Austausch zwischen Bezirksausschuss und Projektentwickler?
Wolfgang Roeck:
Öffentlichkeitsbeteiligung endet nicht in der Erklärung eines Vorhabens. Gemeinsam Stadt entwickeln ist unser Leitmotiv, das bedeutet, dass man auch den Anwohnerinnen und Anwohnern früh Gelegenheit für Fragen und Anregungen gibt, indem man zur Disposition stellt, was man sich gedacht hat, und um Verbesserungsvorschläge bittet. Am Thomas-Wimmer-Ring konnten wir viele Vorschläge umsetzen: Wir konnten die Haltestelle der Reisebusse verlegen und eine Fahrspur einsparen und an der Oberfläche wurde ein neuer Fußgängerweg geschaffen. Und Verbesserungen zeigen sich auch in der Hildegardstraße, und zwar dadurch, dass die Anwohnerinnen und Anwohner mit dem BA letztlich diese Lösung für eine fußgängerfreundliche Verkehrsfläche erarbeitet haben.
Wolfgang Püschel:
Wir haben hier von vornherein die Anwohnerinnen und Anwohner in die Beratungen mit einbezogen, wie die Freiraumgestaltung um die neuen Gebäude sein soll. Man muss die Diskussion von Anfang an offen anbieten, kontinuierlich aufrechterhalten und eben auch klar sagen: Wir sind noch in der Diskussion, auch mit der Verwaltung, den Stadträtinnen und Stadträten sowie den Bürgerinnen und Bürgern.
Prof. Elisabeth Merk:
Ich möchte noch loben, dass wir alle – also Bezirksausschuss, Bürgerschaft, Projektentwickler, Stadt – es geschafft haben, uns bei Problemen sofort hinzusetzen und zu fragen: Wie gehen wir jetzt damit um? Es hat einfach eine Qualität, wenn man sich tatsächlich kennt – und nicht mit einer anonymen Investmentgruppe zu tun hat. So eine Person stellt sich auch bei einer Bürgerversammlung hin. Das macht für uns alle einen Unterschied.
Für die letzte Frage blicken wir ein bisschen voraus: Wir beamen uns ins Jahr 2033. Was sehen Sie auf dem Weg durchs Viertel zurück in Ihr Büro, Frau Professor Merk?
Wolfgang Roeck:
Sie geht nicht mehr ins Büro, sie bleibt hier.
Prof. Elisabeth Merk:
Gute Idee, ich stelle mir das so vor: Neben den Stühlen der Lokale gibt es auch ein paar Bänke, wo man sich einfach so hinsetzen kann, ohne konsumieren zu müssen. Da setze ich mich mit meinem Laptop hin und mache so ein bisschen Homeoffice. Ich treffe dann Menschen aus der Bürgerinitiative und vom BA, die sagen, ah, da haben wir damals aber schon lange darum gerungen, aber es ist gut geworden. Und dann werde ich merken, die Stadt ist irgendwie auch wärmer geworden, und wir sind froh, dass wir hier so viel Durchlässigkeit haben, weil die Durchlüftung besser ist. Wir haben mit großem Aufwand geschafft, dass es ein bisschen mehr Grün gibt und damit auch mehr Schatten. Und es ist einfach toll, dass die Schule immer noch da ist und sich ein paar interessante Projekte drumherum entwickelt haben, die eine Stadt für alle ermöglichen. Ich glaube, darum geht es: dass auch an solchen Orten, die durchaus sehr prominent sind, die Stadt, der öffentliche Raum, das, was angeboten wird, zugänglich für alle bleibt.
Vielen Dank, dann lassen Sie uns in zehn Jahren hier wieder einen Kaffee trinken.

Prof. Dr. (Univ. Florenz) Elisabeth Merk, Stadtbaurätin

Wolfgang Püschel

Wolfgang Roeck, Geschäftsführender Gesellschafter WÖHR + BAUER